26. März 2011

Hinweis: Teile dieses Blogs könnten gegen Ihr moralisches Empfinden verstoßen.

Gegen das moralische Empfinden. Polaroid aus den frühern 70ern
(Quelle: Mapplethorpe Polaroids, Prestel Verlag 2007)
Neulich bei der Mapplethorpe-Ausstellung in der c/o Galerie. Am Eingang prangt ein Hinweisschild: "Teile dieser Ausstellung könnten gegen Ihr moralisches Empfinden verstoßen". Irgendwie befremdend, gilt Mapplethorpe immer noch als Hardcore? Der Mann an der Kasse versucht zu erklären, dass die Galerie sich mit dem Hinweis gegen etwaige Beschwerden absichern wolle. Die gleiche Warnung befindet sich tatsächlich auch auf ihrer Website. Nun ja. Ich schaue mir die Fotografien an: eigentlich nichts wirklich Skandalöses dabei, die altbekannte Mapplethorpe-Ästhetik-Maschine: die berühmten erigierten Penisse und nackten schwarzen Männerkörper der 80er, die Mapplethorpe mit seiner sterilen Ästhetik erst salonfähig machte, erotisch-inszenierte Blumen, bewegende Selbstportraits, die Mapplethorpes vorzeitigen AIDS- Tod thematisieren, Bodybuilder-Akte, die berühmten Patti Smith-Fotos, wunderschöne Kinderporträts und sehr berührende frühe Polaroids aus den 70ern. Alles nichts, was man nicht schon aus diversen Magazinen oder Büchern kennen könnte. Beim Verlassen der Ausstellung komme ich wieder an diesem Schild vorbei. 'Moralisches Empfinden', worauf beziehen die sich damit? Offenbar auf die absurden Anstandsregeln des amerikanischen Puritanismus, der sich durch Homophobie und Körperfeindlichkeit auszeichnet und jeden unverhüllten Nippel im amerikanischen TV unter Strafe stellt. Eben diese Art des 'moralischen Empfindens' sorgte in den USA in den 80ern und 90ern für entrüstete Proteste einer selbsternannten 'moral majority' gegen Mapplethorpes Kunst, die zu Ausstellungsverboten und der Aussetzung staatlicher Künstlerförderung führten. Welcher merkwürdige vorauseilende Retro-Gehorsam hat nun im Berlin des Jahres 2011 die Ausstellungsmacher  zu einem solchen Warnhinweis bewogen?  Könnte man sich ähnliche Schilder beispielsweise auch bei einer Gruppenausstellung kontemporärer Berliner Künstler vorstellen? Galt Berlin nicht gar als letzte Bastion der Liberalität und Freiheit,  in die sich vor der Prüderie und Unverständnis ihrer Heimat geflüchtete amerikanische Künstler absetzten? Offenbar geht man nun auch in Berlin auf Nummer sicher. Vielleicht sollte man anregen, solche Hinweise vor allen Berliner Galerien und Museen anzubringen.  Denn gegen das 'moralische' Empfinden ist  schnell verstoßen: Fühlt sich die eine durch den Anblick eines erigierten schwarzen Glieds beleidigt, nimmt der andere Anstoß am verführerischen Lächeln eines minderjährigen Carravagio-Jünglings und ein Dritter fühlt sich  durch das Porträt einer unverschleierten Frau provoziert. Nimmt man dann noch anstößige religiöse und politische Themen dazu, stellt sich die Frage, ob es überhaupt Kunst gibt, die NICHT gegen irgend jemandes moralisches Empfinden verstößt. Daher sollte man in Zukunft auch vor dem Besuch von Theateraufführungen, Kinos und dem Lesen dieses Texts mit einem entsprechenden Hinweis warnen.